Wie kann die Raumplanung den sozialen Zusammenhalt fördern?

Samuel Leder, Center for Urban & Real Estate Management CUREM, Universität Zürich
Freitag, 03.03.2023
Am letzten Forum Raumwissenschaften diskutierten Entscheidungsträgerinnen und -träger aus der Immobilien- und Raumplanungsbranche, wie es um den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz steht und wie die beiden Branchen diesen gemeinsam positiv beeinflussen können. Empirisch fundierte Erkenntnisse aus der Ökonomie, Psychologie und Soziologie gaben wertvolle Erkenntnisse.
Foto: Kurt Schmidheiny

Die Förderung des sozialen Zusammenhalts ist einer der Hauptzwecke der Eidgenossenschaft (Bundesverfassung Art. 2) und ist auch im Raumplanungsgesetz (Art. 1 & Art. 29a) sowie im Wohnraum-Fördergesetz (Art. 5) als politisches Ziel verankert. Welche Handlungsspielräume und Verantwortung haben Raumplanung und Immobilienwirtschaft hier angesichts zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung und rekordhoher Immobilienpreise?

Aus den Referaten und Diskussionen des diesjährigen Forums Raumwissenschaften (vgl. Kasten unten) kristallisierten sich mehrere Erkenntnisse heraus:

Lektion 1: Die Aufgabe der Raumplanung liegt nicht (mehr) in der «Schadensminimierung», sondern in der Ermöglichung von Mehrwerten.

Viele raumplanerische Instrumente entstanden aus dem Anliegen, negative Effekte des unkoordinierten Bauens zu verhindern. So wurde die Unterscheidung in Bau- und Nichtbauzonen unter anderem eingeführt, um Wohngebäude flächendeckend an die Kanalisation anschliessen zu können und so Gewässerverschmutzung und Seuchen vorzubeugen.

Die komplexe Aufgabe der Innenentwicklung erfordert von der Raumplanung aber nicht mehr nur, dass sie negativen Entwicklungen vorbeugt, sondern dass sie aktiv die Kooperation der verschiedenen beteiligten Akteursgruppen fördert und zur Schaffung von räumlichen, sozialen und ökonomischen Mehrwerten beiträgt.

Ein Vertreter der Pensimo hat am Beispiel der «Stadtsiedlung Reitmen» in Schlieren ZH eindrücklich aufgezeigt, wie durch grossen Einsatz der Eigentümerschaft an einer planerisch herausfordernden suburbanen Lage eine lebendige, durchmischte und wohnliche Nachbarschaft geschaffen werden konnte. Eine stärkere Kooperation zwischen Planungsbehörden und privaten Akteuren könnte die Entstehung ähnlicher Vorbildprojekte auch an anderen Orten begünstigen.

Lektion 2: In der Wohnraumpolitik ist mehr ökonomisches Verständnis gefragt.

Währenddem die soziale Durchmischung mittels wohnraumpolitischer Massnahmen gefördert werden kann, erweisen sich manche anderen sozialpolitisch motivierten Eingriffe in den Wohnungsmarkt bei näherer Betrachtung als ineffektiv oder sogar kontraproduktiv.

Die starke Regulation des Mietwesens und die Förderung von preisgünstigem Wohnraum wird häufig als Mittel zur sozialen Umverteilung dargestellt, kommt aber nur zum Teil den effektiv bedürftigen Zielgruppen zugute. Die Nebenwirkungen können allerdings massiv sein, wie am Beispiel des Berliner «Mietendeckels» in den letzten Jahren sichtbar geworden ist. So hat die Aushebelung der Preisbildungsmechanik im Wohnungsmarkt zur Folge, dass Wohnraum «überkonsumiert» wird, das heisst Einzelpersonen tendenziell in grossen, günstigen Wohnungen wohnen bleiben und damit eine bestehende Wohnungsknappheit noch verschärfen. Flankierende Massnahmen wie Einkommenskontrolle oder Belegungsvorgaben können Abhilfe schaffen, sind aber aufwändig und kaum grossflächig umsetzbar.

Für Akteure in der Wohnungspolitik ist deshalb ein solides ökonomisches Grundverständnis über die wirtschaftlichen Zusammenhänge im Wohnungsmarkt und die Auswirkungen von regulatorischen Eingriffen unabdingbar.

Lektion 3: Die Immobilienwirtschaft muss stärker in die Verantwortung genommen werden.

Entscheidend für das gute Funktionieren von Nachbarschaften ist gemäss psychologischer Erkenntnisse nicht die Anzahl enger Freundschaften, sondern dass viele «weak ties» vorhanden sind – positive lose Bekanntschaften, welche nachbarschaftliches Vertrauen schaffen und auf welche man für Unterstützung in Notsituationen zurückgreifen kann.

Diese positiven losen Kontakte lassen sich mit diversen Mitteln fördern, welche von Eigentümern und Projektentwicklern aktiv eingesetzt werden können, beispielsweise:

  1. Vordenken: Fragen des Zusammenlebens bereits in der Projektkonzeption mitdenken oder als Beurteilungskriterium in Architekturwettbewerben integrieren.
  2. Wohnungsmix und Quartierinfrastruktur für alle Lebensalter vorsehen: Die Möglichkeit, über verschiedene Lebensphasen am gleichen Ort wohnen zu können, fördert die Entstehung tragfähiger Beziehungsnetzwerke.
  3. Neue Betriebsmodelle testen: Läden, Nachbarschaftscafé, Bibliothek u. ä.. können zu wichtigen sozialen Treffpunkten werden, müssen aber mit unternehmerischer Kreativität geplant werden – zum Beispiel könnte ein Abo-Modell für alle Mietenden eine Grundauslastung für ein Lokal sicherstellen.
  4. Aneigenbare und adaptierbare Architektur: Individuell möblierbare Übergangszonen zwischen privaten und gemeinschaftlichen Räumen schaffen eine wohnliche Atmosphäre. Verschiebbare Sichtschutzelemente u. ä. ermöglichen sozialen Kontakt bei Bedarf, ohne dafür die Privatsphäre zu opfern.
  5. Sharing-Systemen: Von Minimal-Massnahmen (wie bspw. Briefkastenaufkleber der Teilplattform pumpipumpe.ch) über ein Materialdepot, welches von Bewohnenden selbst verwaltet werden kann, bis zur professionellen Materialbibliothek (wie bspw. die «Leih-Bar» in Bern) existieren mittlerweile diverse erprobte Systeme.
  6. Professionelles Siedlungscoaching: Kann gerade bei Neubausiedlungen eine wertvolle initiale Vernetzungshilfe unter den Neuzugezogenen sein – mit dem Ziel, sich selbst möglichst bald überflüssig zu machen.

Forum Raumwissenschaft

Ende Oktober 2022 fand das 11. Forum Raumwissenschaften statt. Im Zentrum stand die Frage «Soziale Kohäsion – was hält uns zusammen?». Die Tagung für Entscheidungsträgerinnen und -träger aus der Schweizer Immobilienwirtschaft und Raumentwicklung wird jedes Jahr gemeinsam von mehreren Hochschulen, Branchenverbänden sowie den Bundesämtern ARE und BWO veranstaltet.

Weitere Informationen finden Sie hier.

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