Grosse Transformation und nachhaltige Raumentwicklung

Damian Jerjen, Direktor EspaceSuisse
Dienstag, 23.01.2024
Der Anspruch an eine nachhaltige Raumentwicklung ist hoch, die Realität in der Planungspraxis ernüchternd. Die ARL, ein Netzwerk von Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis, zeigt im Rahmen eines Positionspapiers Impulse und Möglichkeiten auf, wie Raumplanung und Raumentwicklung zu einer Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu einer starken Nachhaltigkeit beitragen können.
Meyrin GE: ecoquartier Les Vergers. (Foto: Damian Jerjen)

Mehr Bio im Supermarkt, mehr Elektroautos statt Verbrenner oder weniger fliegen: So wird’s schon klappen die gesteckten Ziele zu erreichen – allen voran Netto Null, das heisst dass der Anteil an Treibhausgasen in der Atmosphäre konstant bleibt und nicht weiter ansteigt. Leider ist dem nicht so. Denn es sind alles nur kleine Verbesserungen in einem ansonsten unveränderten nicht nachhaltigen System.

Angesichts der vielfach wissenschaftlich belegten natürlichen Grenzen unseres Planeten beziehungsweise der Tatsache, dass diese zu einem grossen Teil bereits überschritten sind, ist ein globaler Wandel notwendig, eine grosse «Grosse Transformation». Damit ist ein umfassender sozial-ökologischer Umbau gemeint, der alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft umfasst.

Was bedeutet das für die Raumentwicklung? Dieser Frage ging eine Arbeitsgruppe der ARL nach (siehe Kasten unten). Im Fokus stand die konkrete Umsetzung einer nachhaltigen Raumentwicklung, also das «machen». Aber wie soll das gehen?

Aus Sicht der Arbeitsgruppe sind fünf Leitprinzipien für die Umsetzung der grossen Transformation besonders zentral:

  1. Starke Nachhaltigkeit konsequent verfolgen, sektorale Ansatz überwinden: Es ist unabdingbar, in der Planungspraxis die Prioritäten sowie die Rangordnung der Ziele neuzujustieren und die Natur in den Mittelpunkt zu stellen. Eine integrierte Wirtschaft agiert sozialverträglich und innerhalb der planetarischen Grenzen.
     
  2. Positive und prozessuale Planung: Damit Planungen auf breite Akzeptanz stossen, müssen Ängste abgebaut und Transparenz geschaffen werden. Dazu eignet sich besonders das Denken in Varianten, mit Hilfe von Szenarien, Testplanungen, Experimentierräumen und die kontinuierliche Weiterentwicklung von Plänen.
     
  3. Von der Ursache her denken: Ganzheitliches und querschnittsorientiertes Denken weitet die Sicht auf Zusammenhänge und Lösungen aus. Eine sogenannte Problemverschiebung (hin zur Ursache) ermöglicht es, Probleme anders anzugehen, um neue Lösungsansätze zu finden. Zum Beispiel lässt sich einem Mangel an preisgünstigem Wohnraum begegnen, indem der Anteil an sozialem Wohnungsbau erhöht wird statt neue Flächen einzuzonen.
     
  4. Kostentransparenz schaffen: Kosten, die durch Beeinträchtigung von Ökosystemleistungen und externe Effekte entstehen, sollten vollständig in Planungsprozesse integriert werden. Auch die Kosten des Nichthandelns und des potenziellen Missbrauchs müssen berücksichtigt werden.
     
  5. Fokus Praktiken: Soziale Praktiken haben ein grosses transformatives Potenzial. Die Umsetzung bestimmter Praktiken (z. B. der Umstieg vom Fahrrad auf die Bahn für den täglichen Arbeitsweg) ist in der Regel an Infrastruktur (Strassen, Parkplätze) und Ausstattung (Fahrrad, Abstellplätze) gebunden. Durch eine optimale Ausgestaltung kann das Verhalten nachhaltig beeinflusst werden.

Die Grosse Transformation erfordert eine neue räumliche Governance, die neue Prozesse initiiert (Innovationen) und bestehende nicht nachhaltige Prozesse beendet (Exnovationen). Gerechtigkeitskriterien, die Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme sowie der Schutz und die Entwicklung der Biodiversität dienen als Vorgaben. Die Arbeitsgruppe schlägt dazu Strategien vor.

Transformation als öffentliches Interesse

Ähnlich wie das übergeordnete nationale Interesse an Speicherkraftwerken im schweizerischen Stromversorgungsgesetz sollte ein übergeordnetes öffentliches Interesse an der Transformation rechtlich verankert werden. Damit wäre eine vorrangige Umsetzung gegenüber anderen Interessen gewährleistet. Durch diese verbindliche Verankerung könnte aus der «Freiwilligkeit der Wenigen» eine «Umsetzung der Vielen» werden.

Transformationskonzepte

Bestehende kantonale, regionale und kommunale Raumkonzepte sollen die planetarischen Grenzen berücksichtigen und die entsprechende Entwicklung für ihren jeweiligen Bezugsraum konkretisieren. Diese so genannten Transformationskonzepte sollen auch bestehende Aktivitäten berücksichtigen, in die Nutzungspläne überführt und durch ein Umsetzungsmonitoring begleitet werden. Zielkonflikte und Interessenabwägungen sind professionell zu moderieren.

Zielabweichungsverfahren

Um das raumplanerische Instrumentarium schneller an die Erfordernisse der Grossen Transformation anzupassen, soll ein entsprechendes Zielabweichungsverfahren eingeführt werden. Damit sollen transformative Praktiken ermöglicht werden, beispielsweise um Freiräume im Sinne von Klimaschutz und -anpassung zu entwickeln.

Integrierte Transformationsräume

Transformationsräume sollen als Experimentier-, Pionier- oder Modellräume dienen. Ziel ist die räumliche Umsetzung sogenannter Mehrgewinnstrategien, zum Beispiel indem eine Fläche mehrere Nutzungsansprüche erfüllt (regenerative Landwirtschaft zur Verbesserung der Bodenqualität, Stabilisierung von Ökosystemen und zur Klimaanpassung).

Prioritätensetzung im Finanzausgleich

Gebietskörperschaften, die einen Beitrag zur Grossen Transformation leisten, beispielsweise durch flächenschonende Siedlungsentwicklung oder durch Massnahmen zum Bodenschutz, sollen finanziell belohnt werden. Diese Finanzierungsmodelle sollen Planungssicherheit und Akzeptanz für transformative Projekte schaffen.

Die Raumentwicklung ist in der Verantwortung

Angesichts vielfältiger, miteinander verflochtener globaler und regionaler Krisen sind die Dringlichkeit und der unmittelbare Handlungsbedarf gross. Letztlich wird die Grosse Transformation nur gelingen, wenn gleichzeitig ein Kultur- und Bewusstseinswandel stattfindet. Der Kulturwandel in der räumlichen Planung und Entwicklung hin zu mehr Praktiken und Prozessen statt Plänen und der Bewusstseinswandel vom Verständnis der Natur als Umwelt hin zu einem Verständnis der Natur als Mitwelt.

Starke Nachhaltigkeit

Im Hinblick auf den Klimawandel und die Biodiversitätskrise ist für eine nachhaltige Raumentwicklung ein Paradigmenwechsel hin zur sogenannten starken Nachhaltigkeit erforderlich.

Lesen Sie hierzu den Artikel im Fokus

Die Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL) mit Sitz im deutschen Hannover ist eine selbstständige und unabhängige raumwissenschaftliche Einrichtung. Über 500 Fachleute aus der Raumwissenschaft und aus der Praxis arbeiten bundesweit in verschiedenen Arbeitsgremien transdisziplinär. Durch den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis fliessen wichtige Erkenntnisse auch in die Politik und die Planung ein.

arl-net.de

Weitere Informationen zur gemeinsamen Arbeitsgruppe der Landesarbeitsgemeinschaften Baden-Württemberg und Bayern die sich mit der Frage der praktischen Umsetzung der "grossen Transformation" im Kontext nachhaltiger Raumentwicklung auseinandersetzt, finden Sie hier.

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