Kann im Baubewilligungsverfahren noch eine Interessenabwägung vorgenommen werden?

In unserer Gemeinde stellen sich Fragen zum Umgang mit dem ISOS bei Baugesuchen: Eine Privatperson mit einem Bauvorhaben im ISOS-Gebiet behauptet, dass wir im Baubewilligungsverfahren keine Interessenabwägung mehr vornehmen dürfen. Stimmt das?

In der Rubrik «Sie fragen – wir antworten» beantworten Juristinnen und Juristen von EspaceSuisse Fragen aus der Schweizer Rechtspraxis in der Raumplanung. Die Antwort auf obige Frage lautet:

Zur Klärung dieser Frage ist zunächst zwischen dem Nutzungsplanverfahren und dem Baubewilligungsverfahren zu unterschieden. Weiter ist zu präziseren, was unter einer raumplanerischen Interessenabwägung verstanden wird.

Eine umfassende raumplanerische Interessenabwägung berücksichtigt alle in Frage kommenden Interessen. Auf kommunaler Ebene erfolgt sie in der Regel bei der Erstellung von Nutzungsplänen (Rahmen- oder Sondernutzungsplänen). In diesem Verfahren müssen deshalb auch die Interessen des Bundesinventars der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) vollumfänglich berücksichtigt werden.

Im Baubewilligungsverfahren ist dagegen der Ermessensspielraum der Behörde geringer. Wird ein Baugesuch für ein Vorhaben in einer Bauzone eingereicht, hat der Gesuchsteller grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass sein Projekt bewilligt wird – falls es dem Nutzungsplan sowie den übrigen Voraussetzungen des Bundesrechts und des kantonalen Rechts entspricht (Art. 22 Abs. 3 RPG). Eine ordentliche raumplanerische Interessenabwägung ist hier grundsätzlich nicht vorgesehen: Es werden nicht alle Interessen erneut geprüft.

Die erwähnten übrigen rechtlichen Voraussetzungen (auf die Art. 22 Abs. 3 RPG verweist) können jedoch der Baubewilligungsbehörde einen gewissen Beurteilungsspielraum einräumen. Dabei handelt es sich um Bestimmungen aus der Spezialgesetzgebung des Bundes (z. B. aus dem Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz [NHG]) oder um kantonale Rechtsnormen, wie kantonale Ästhetikklauseln. Wird in solchen Fällen das Interesse an der Verdichtung dem Erfordernis einer guten Einordnung in die Umgebung gegenübergestellt, kommt dieser Beurteilungsspielraum einer eigentlichen Interessenabwägung nahe. Dabei gilt es aber zu differenzieren: Tatsächlich handelt es sich dabei um die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Um die Einordnung in die Umgebung zu beurteilen, muss die Behörde unter anderem die zugehörigen Elemente im ISOS berücksichtigen. Weitere Grundlagen, wie beispielsweise kantonale Bauinventare, fliessen ebenfalls in die Beurteilung ein.

Grösser ist der Einfluss des ISOS im Baubewilligungsverfahren allerdings dann, wenn das Bauvorhaben eine Bundesaufgabe (beispielsweise den Gewässerschutz) tangiert. In diesem Fall sind die Vorgaben des ISOS direkt anwendbar: Artikel 5 des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz (NHG) verlangt eine umfassende Interessenabwägung gemäss NHG.

Quelle: Inforaum 2/2020

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