Nicht die Raumplanung ist das Problem, sondern der knappe Raum

Damian Jerjen, Ökonom und Raumplaner, Direktor EspaceSuisse
Montag, 24.04.2023
Es droht eine Wohnungsknappheit. Die Botschaft ist mittlerweile angekommen. Nachdem in den letzten Wochen vor allem Vertreter der Bankenbranche in den Medien zu Wort kamen, ist es höchste Zeit für eine etwas differenziertere Sichtweise.
Foto: Monika Zumbrunn, EspaceSuisse

Während die Banker das Hauptproblem bei der Raumplanung verorten, kommen Immobilienprofis zu einem etwas differenzierteren Schluss. Ein Blick auf die aktuellen Analysen von Wüest & Partner (Immo Monitoring 2023/2) oder Fahrländer Partner AG zeigt: Die Ursachen für die geringe Neubautätigkeit liegen sowohl bei rechtlichen Hürden, komplizierten Vorschriften und der liberalen Einsprachepraxis in der Schweiz als auch beim Finanzmarkt. Siehe da! Aufgrund der langen Tiefzinsperiode waren Immobilien lange Zeit rentable Investitionsanlagen. Vor einigen Jahren wurde angesichts der hohen Leerwohnquoten gar von einem «Bauen auf Vorrat» gesprochen. Das Hypothekengeschäft der Banken boomte. Doch dann drehte der Wind. Die Zinsen stiegen, gleichzeitig auch die Finanzierungskosten für Neubauten: Das Bauen wurde teurer. Mit dem Wind wendete auch das Boot. Weg vom Immobilien- und damit vom Wohnungsmarkt, hin zu den Aktienmärkten und anderen Anlagen. Auch deshalb droht eine Wohnungsknappheit. Also was ist nun genau los? Der Reihe nach.

Wir haben genug Platz

2013 hat das Schweizer Stimmvolk mit einer klaren Mehrheit beschlossen, die Zersiedlung zu stoppen und die Siedlungsentwicklung in Zukunft nach innen zu lenken. In den letzten zehn Jahren haben die Kantone und Gemeinden diesen Paradigmenwechsel von RPG 1 (1. Revisionsetappe des Raumplanungsgesetzes) umgesetzt. In den kantonalen Richtplänen wurden die Spielregeln für die Gemeinden festgelegt und in den Gesetzen die Grundlagen für die notwendigen Instrumente definiert, etwa zur Abschöpfung von Mehrwerten, die bei Um- und Aufzonungen entstehen (vgl. Raum & Umwelt 1/2022). RPG 1 forcierte ausserdem die Mobilisierung von vorhandenem, aber ungenutztem Bauland.

Auch im Sinne eines Zersiedelungsstopps: Kantone mit zu grossen Bauzonen müssen diese reduzieren. Aber: Solche Bauzonen liegen nicht etwa in Gemeinden mit knappem Wohnungsangebot, sondern dort, wo die Bevölkerung nicht oder kaum wächst. Auch mit den Rückzonungen: Bauland für die erwartete Bevölkerungsentwicklung gibt es grundsätzlich genug. Gemäss Wüest & Partner verfügen die Kantone heute gar über mehr Baulandreserven für den Wohnungsbau als 2012 – also vor der Revision des Raumplanungsgesetzes. Die bestehenden unbebauten Bauzonen bieten Wohnraum für 1,6 Millionen Personen – bei gleichbleibender Dichte nota bene. Hinzu kommt ein Potenzial von 1,1 Millionen Personen auf bereits bebauten Flächen. Zum Vergleich: Das Referenzszenario des Bundesamtes für Statistik geht von einem anhaltenden Wachstum der Wohnbevölkerung aus, die 2050 voraussichtlich etwa 10,4 Millionen Personen umfassen wird. Im Vergleich zu heute sind das rund 1,5 Millionen Personen zusätzlich. Die vorhandenen Baulandreserven reichen also für das erwartete Bevölkerungswachstum.

Die Komplexität steigt

Mit dem Auftrag, die Entwicklung nach innen zu lenken, hat sich die Art und Weise, wie gebaut wird, geändert. Siedlungsentwicklung nach innen ist kein Sonntagsspaziergang. Das ist seit Langem bekannt. Dieses «Bauen und Gestalten im Bestand» ist komplexer als auf der grünen Wiese. Im «Bestand» leben schon Menschen, die in die Entwicklung des Gebiets einbezogen werden wollen und müssen. Innenentwicklung bedeutet konkret: Baulücken auffüllen, unternutzte Gebiete aufzonen, Siedlungen und Ortskerne erneuern, umzonen, verdichten und dabei Freiräume schaffen. Wenn dies qualitätsvoll geschieht, hat Innenentwicklung zusätzliche positive Nebeneffekte: Sie fördert kurze Wege zwischen Wohnen, Freizeit und Einkauf, belebt Quartiere und senkt die Kosten für die Erschliessung.

Klar, Verdichtung ist teuer. Aber überall dort, wo verdichtet wird, entstehen auch Mehrwerte durch Um- oder Aufzonungen. In den meisten Kantonen geht der gesamte Mehrwert – oder zumindest der grösste Teil – an die Eigentümerschaft und deckt damit die Mehrkosten. Was von der öffentlichen Hand mit dem Mehrwertausgleich abgeschöpft wird, sollte wiederum in die Siedlungsqualität investiert werden, beispielsweise für hochwertige Grünräume wie dies in Basel mit dem Erlenmattpark der Fall ist.

Verdichtung funktioniert

In den letzten Jahren haben bereits viele Gemeinden ihre Ortsplanungen an die neuen Anforderungen des Raumplanungsgesetzes und der kantonalen Richtpläne angepasst und Erfahrungen bei Verdichtungsprojekten gesammelt. Verdichtung funktioniert. Dies zeigen auch die aktuellen Resultate der Arealstatistik (siehe News vom 11.11.2022). Zwischen 2009 und 2018 ist die Siedlungsfläche zum ersten Mal weniger stark gewachsen als die Bevölkerung. Auch die Raiffeisenbank kommt in ihrer Studie Immobilien Schweiz 3/22 zum Schluss, dass Verdichtung funktioniert, identifiziert aber ein grundlegendes Problem: Obwohl weniger Einfamilienhäuser gebaut und die Wohnungen kleiner werden, wird die Fläche immer noch ineffizient genutzt – Stichwort: Wohnfläche pro Person.

Dass Verdichtung funktioniert, zeigen auch zahlreiche gute Beispiele. Mittlerweile über 70 davon hat EspaceSuisse aufbereitet und auf densipedia.ch – der Schweizer Plattform für Innenentwicklung und Verdichtung – zur Verfügung gestellt. Ein Blick in diese Sammlung zeigt: Oft findet man gelungene Projekte in aktiven und vorausschauenden Gemeinden. Gemeinden, die sich kontinuierlich mit der eigenen Entwicklung auseinandersetzen, fundierte Kenntnisse der Ausgangslage besitzen und sich die notwendigen Kompetenzen holen. Die diesjährige Wakkerpreis-Gewinnerin Lichtensteig SG beispielsweise legt viel Gewicht auf die Mitwirkung und hat gemeinsam mit der Bevölkerung eine räumliche Entwicklungsstrategie erarbeitet. In Lichtensteig waren – wie so oft – Schlüsselpersonen die wesentlichen Treiber und Erfolgsfaktoren.

Mit Menschen Raum für Menschen schaffen

Für eine erfolgreiche Innenentwicklung braucht es ein Umdenken und die notwendigen Kompetenzen (Know-How) und Ressourcen (personelle und finanzielle). Wenn Bund, Kantone, Gemeinden und Städte aktiv und zusammen mit den Akteuren der Bauwirtschaft am selben Strick ziehen, gewinnt die Innenentwicklung. Letztlich geht es darum, qualitätsvolle Räume für Menschen zu schaffen und dafür müssen wir uns in erster Linie mit Menschen befassen (siehe auch Kasten: die sieben Impulse).

Anstatt Deregulierung zu fordern, müssen wir lernen, gemeinsam mit der zunehmenden Komplexität umzugehen. Dabei ist nicht die Raumplanung das Problem, sondern der knappe Raum. Vielmehr bietet die Raumplanung Lösungen und Instrumente. Bei der letzten RPG-Revision zurückzubuchstabieren, ist keine Lösung. Im Gegenteil: Die Rechtsunsicherheiten würden zunehmen. Und das hilft nicht, die aktuellen Probleme zu lösen. 

RPG 1 findet statt

Wie kann qualitätsvolle Innenentwicklung gelingen?

Folgende Impulse können helfen:

  1. Menschen, nicht Pläne machen Raumplanung: Innenentwicklung stösst nur dort auf Akzeptanz, wo aus Sicht der Bevölkerung Qualitäten bewahrt, Defizite behoben und Mehrwerte geschaffen werden. Frühzeitige Partizipation und Qualität hängen eng zusammen.
  2. Gemeinsam experimentieren – um die guten Regeln zu finden! Jedes Projekt ist anders und muss in den Kontext eingebettet werden. Mehr Regeln bedeuten nicht immer mehr Qualität. Gerade bei der Innenentwicklung ist es daher notwendig, innovationsfördernde Methoden einzusetzen und Experimenten eine Chance zu geben.
  3. Gezielte Partizipation statt Planung im Elfenbeinturm: Nur wenn es gelingt, mit allen Akteuren fair zu verhandeln und berechtigte Ansprüche der Bevölkerung zu berücksichtigen, ist die Innenentwicklung zielführend.
  4. Öffentliche Räume sind das Herz der dichten Stadt: Nur hochwertige Gestaltungen (Strassen- und Grünräume, Plätze) bieten den notwendigen Mehrwert für die Akzeptanz der dichten Stadt.
  5. Nicht mit dem Kopf durch die Wand: Raumplanung ist Interessenabwägung! Und diese bedingt auch die Bereitschaft, über den eigenen Schatten zu springen, wirtschaftliche Abstriche hinzunehmen und auf übertriebene Schutzanforderungen zu verzichten.
  6. Vogelperspektive statt Gärtchendenken: Es braucht grenzübergreifende räumliche Entwicklungsvorstellungen. Testplanungen, Masterpläne oder ähnliche Formate, aber auch Infrastrukturen und Vorkehrungen zur Erhöhung der Siedlungsqualität können dazu beitragen, Grenzen zu überwinden.
  7. Return on planning! Gute Planung, gerade auch mit Blick auf die hochwertige Siedlungsentwicklung nach innen, darf ihren Preis haben. Teurer als gute Planungen sind lange Verfahren, Fehlentwicklungen, unbedachte Auswirkungen, negative Nebenfolgen und nachträgliche Korrekturen.

Grenzen des Wachstums

Der haushälterischer Umgang mit dem Boden ist ein zentraler Auftrag an die Raumplanung. Dabei stellt sich angesichts der begrenzten Ressourcen auch die Frage nach den Grenzen des Wachstums.

Der Jahreskongress 2023 von EspaceSuisse nimmt sich dem Wachstum an. Auch die Raumplanung ist in der Verantwortung und muss neu gedacht werden, um die grossen Herausforderungen wie den Klimawandel zu meistern. Mehr zum Programm des Kongresses «Raumplanung und die Grenzen des Wachstums» vom 29. Juni 2023 in Solothurn finden Sie hier.

Lesen Sie dazu auch den Artikel von Prof. Dr. Irmi Seidl: Die Leiterin der Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften am WSL setzt sich im aktuellen EspaceSuisse-Fachmagazin Inforaum 1/2023 mit den ökologischen Grenzen der Bevölkerungsszenarien des Bundesamts für Statistik auseinander.

Ökologische Grenzen für Bevölkerungsszenarien

Parlamentarische Vorstösse

Als Reaktion auf die drohende Wohnungsknappheit werden aktuell auch auf politischer Ebene verschiedene Massnahmen diskutiert. Eine Übersicht zu den verschiedenen Geschäften und Interventionen im Bundesparlament zeigt auch verschiedene Möglichkeiten für den Umgang mit Wohnraum:

  • Postulat 23.3377 Bezahlbaren Wohnraum schaffen mit besserer Nutzung bestehender Gebäude (Grüne Fraktion)
  • Motion 23.3177 Optimierung der Belegung der Wohnfläche von Mietwohnungen. Wohnraumtausch durch gegenseitige Übertragung von Mietverhältnissen für Wohnraum ermöglichen (Sommaruga Carlo, SP)
  • Interpellation 23.3355 Massnahmen des Bundes gegen die Wohnungsknappheit (Girod Bastien, Grüne)
  • Motion 23.3341 Prioritätenliste für die Interessenabwägung bei Projekten von übergeordneter Bedeutung (Bregy Philipp Matthias, Mitte)
  • Motion 22.4550 Vorzeitige Vertragsauflösung. Vermeidung von unnötigen Schritten (Dandrès Christian, SP)
  • Interpellation 22.4477 Tiefer Leerwohnungsbestand und steigende Mieten. Massnahmen für Mieter und Mieterinnen sind dringend (Gysi Barbara, SP)
  • Motion 22.4413 Wohnungsknappheit in Tourismusgemeinden. Ergänzung von Artikel 3 BewV, Personalwohnungen von Hotels als Teil einer Betriebsstätte anerkennen (Schmid Martin, Mitte)
  • Interpellation 22.4323 Wohnen. Welche Massnahmen angesichts der bevorstehenden schweren Wohnungsnot? (Sommaruga Carlo, SP)
  • Interpellation 22.4305 Drohende Wohnungsknappheit. Was tut der Bundesrat? (Weichelt Manuela, Grüne)
  • Interpellation 22.4298 Wohnungspolitischen Dialog reaktivieren? (Töngi Michael, Grüne)
  • Parlamentarische Initiative 22.486 Transparenz im Mietwesen verbessern (Imboden Natalie, Grüne)
  • Parlamentarische Initiative 22.462 Missbräuchliche Mietzinse und steigende Heizkosten. Die Vermieterinnen und Vermieter dürfen nicht überall gewinnen! (Dandrès Christian, SP)
  • Postulat 22.4290 Wohnungsnotstand in der Schweiz. Analyse der tiefen Leerwohnungsquote und mögliche Ansätze zu deren Entschärfung (Müller Damian, FDP)

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Kongress 10 Jahre RPG 1